SUMMA SUMMARUM
Oder: Alles ohne Taschenrechner
Runen ritze keiner,
rät er nicht, wie’s steht darum.
(Egils Saga 72)
Wenn man heute von „Magie“ spricht, denkt man gewöhnlich an Zauberei, bei der die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden. Im Mittelalter aber verstand man „Magie“ im Sinne von Macht, Fähigkeit (ags. magan = können; mæg = er kann). Hinter den konkreten Dingen vermutete man verborgene Kräfte, die ihre Art bestimmen1. Es müßte also möglich sein, Macht über die Dinge zu gewinnen, wenn man die Formeln kennt, denen sie gehorchen. In dieser Absicht schrieb man den Runen, die als Begriffe für die realen Dinge (Erscheinungen) stehen, dieses Vermögen zu. Da das Zeichen das Ding an sich vertritt, wird man es für realer gehalten haben als die einzelne Erscheinung. So steht die f-Rune für feoh, also für „Vieh“ und davon übertragen für den beweglichen Besitz, also für Geld. Die Rune, die erste in den Runenreihen fuþark bzw. fuþorc, bedeutet Reichtum, weniger aber konkret das Geld, das man gerade hortet oder verschwendet. Ebenso steht die t-Rune für den Sieg generell, während der Sieg des Titus über die Juden nur eine ihrer Erscheinungen ist. Das erinnert an das Periodensystem, in dem Wasserstoff (H) an erster Stelle steht und damit den Wert 1 hat, während Sauerstoff (O) an achter Stelle den Wert 8 besitzt, wobei die beiden Gase scheinbar magisch zu Wasser (H2O) "verbrennen".
Da nun diese Runen eine zahlenmäßig definierbare Position in der Runenreihe haben, gewinnt auch die Zahl als Ordnungsprinzip magische Qualität. So hat man nun die 24 Runen des fuþark in 3 Gruppen zu je 8 Runen (ætt, pl. ættir) gegliedert – also ähnlich dem Periodensystem mit seinen Reihen und Spalten –
um so die Dinge zu definieren. Im konkreten Fall steht die f-Rune an der 1. Stelle und hat damit 1 als Wert. Da sie in der 1. Achterreihe (ætt) an 1.Stelle rangiert, wird sie mit 1/1 gekennzeichnet. Die u-Rune wird demnach mit 1/2 wiedergegeben. Die t-Rune , an 17. Stelle der Runenreihe (Wert 17), ist also im dritten ætt die erste Rune (3/1)2. In diesem System spiegelt sich eine mathematische Absicht: Zum einen die 3-Zahl der Reihen, die 8-Zahl der Runen und die als magisch angesehene Gesamtzahl der Runen, 24. Die 24 wiederum ist bedeutungsvoll wegen ihres Wertes 300 (die Summe aller ihrer Zahlen von 1 + 2 + 3… bis 24).
Obwohl das anglo-friesische fuþorc bis zu 9 weitere Runen hinzufügt – vermutlich aus nicht nur lautlichen, sondern auch aus kalkulatorischen Gründen –, ändert sich an dem auf 24 basierenden System wenig oder nichts. So trägt das sog. Themseschwert das erweiterte fuþorc aus 28 Zeichen, und außerdem den Namen B[ea]ganoþ (7 Zeichen), eine Inschrift, die wohl als Schutzzauber zu verstehen ist, wobei die Anzahl der Runen vermutlich keine Rolle spielt.
So heißt es im eddischen Sigrdrifumal
Siegrunen schneide, wenn du Sieg haben willst;
grabe sie auf des Schwertes Griff;
auf die Seiten einige, andere auf das Stichblatt
und nenne zweimal Tyr.
Mit Tyr ist der alte Gott des Kampfes und des Sieges, der Herr des Things, gemeint. Gelegentlich findet sich auch dessen Rune auf Waffen.
MAGIE: MACHT IST MACHBAR
Die fünf Platten des Kästchens zeigen sechs emblematisch gebrauchte Motive und vier Texte, also eine umlaufende Inschrift auf jeder Seitenplatte, während der Deckel lediglich den Namen Ægil(i) als titulus trägt. Es geht bei den Bildern nicht um erzählende Szenen, sondern um Sinnbilder: So wie die Rune für den Sieg steht, so ist die bildhafte Darstellung eines Sieges in gleicher Weise wirksam, - ähnlich wie das Kruzifix nicht als Abbild, sondern als Sinnbild des Glaubens verstanden wird.
Ausgangspunkt für die Konzeption war eine wohl berechnete Folge von schicksalslenkenden Runen (z.B. ) deren Bedeutung (Sieg) die Wahl des passenden Sinnbildes (Titus) bestimmt. Damit nun will der Runenmeister das Leben seines Schützlings magisch beeinflussen, und zwar von dessen Geburt bis zum Heldentod und danach ... Wotan/Odins Walhalla, nach germanischer Auffassung.
HEROISCHES LEBEN
Eine Segen bringende Formel
Die vier Bilder auf drei Platten (F R T) sollen den Weg des (vermutlich königlichen) Schützlings von seiner Geburt über den Kampf bis an den Zenit seiner Macht sichern. Sie thematisieren mit F und G den Wohlstand mittels nobler Geburt und Schutz durch die Fylgja, mit R deren Beistand auf dem Heerzug und mit T ihre Gunst für den Sieg. In dieser Folge ziehen sie sich linksläufig (vorne, links, hinten) um das Kästchen, wobei die Themen bestimmenden Runen Namen (oder namensgleiche Begriffe) einleiten: Fisc neben Gasric, sowie Romwalus und Titus.
Die drei Inschriften auf den drei Platten sind weniger als erzählende Texte, denn als magisch wirksame Runenworte gedacht. Während die Inschrift der Vorderseite nur indirekten Bezug über die Themenrunen F und G zu den beiden Bildern hat, bieten die beiden anderen Platten kommentierenden Text, eingeleitet mit der jeweiligen Themenrune:
Vorderseite:
Die F-Rune steht für feoh, was zunächst „Vieh“ bedeutet, jetzt aber den Besitz beschreibt: Gold und Schmuck, wie ihn der elbische Schmied Wieland herstellt.
Die G-Rune steht für gift, für die „Gabe“, welche die Magier so großzügig austeilen.
und zusammen ergeben den Begriff feohgift, „Geldgeschenk, Freigiebigkeit“, was genau den Inhalt des Schatzkästchens beschreibt: Gaben, mit denen der Kriegsherr in der Halle seine Gefolgsleute ehrt und auszeichnet (ags. Runengedicht).
Linke Seite:
Die R-Rune steht für rad, den Ausritt in den Kampf (ags. Runengedicht). Die Rune wird hier versinnbildlicht durch Romulus und Remus, Söhne des röm. Kriegsgottes Mars, die hier, neben Wotan/Odins Wölfen, als dioskurische Kampfhelfer dienen.
Rückseite:
Die T-Rune benannt nach Tyr, dem alten germanischen Gott, steht für Sieg und Gerechtigkeit (ags. Runengedicht). Der römische Feldherr und spätere Kaiser Titus versinnbildlicht die Rune.
Die Werte der Themenrunen lassen einige (zunächst spekulative) Schlüsse zu:
Vorderseite:
und zusammen ergeben den Begriff feohgift, „Geldgabe, Freigiebigkeit“, was genau den Inhalt des Schatzkästchens beschreibt: Gaben, mit denen der Kriegsherr in der Halle seine Gefolgsleute ehrt und auszeichnet.
(Wert 1) und (Wert 7) produzieren den Wert 8, und da je 3 dieser Runen einen alliterierenden Vers bilden, ergeben die 2 Verse den Wert 24.
Linke Seite:
Die R-Rune hat den Wert 5. Da sie 3 mal in alliterierender Position erscheint, ergibt sich der Wert 15. Dieser steht für die EO-Rune , nach dem Runengedicht „Riedgras“, das dem Krieger garstige Wunden zufügt. Diese Rune ist Symbol der Schwanenjungfrau (Fylgja und Walküre), worauf auch die Ähnlichkeit von mit dem Fußabdruck des Vogels hinweist. Alle betonten Runen dieser Inschrift [R R – T G – F W R] zusammen haben den Wert 48, ein Ergebnis, das allerdings nur mit großem Vorbehalt aufgenommen werden sollte.
Rückseite:
Die T-Rune hat den Wert 17. Sie erscheint nur einmal – obere Leiste, links, wo sich auf allen Seiten die jeweilige Themenrune finden. In Verbindung mit der vermutlich nur für den numerischen Zweck vorgeschalteten G-Rune (in ‚g’iuþeaþu, statt iuþeas) ergibt sich der Wert 24.
Die 4 Themenrunen auf den 3 lebensglück-sichernden Seiten produzieren den Wert 30, was man als wirksame Zahl (10 x 3) ansehen kann.
3 Formeln aus je 9 Runen auf den linken Rändern stehen den Themenrunen (Initialen), mit denen die Lesung der oberen Leiste auf allen drei Seiten beginnt, voran (Runen/Wert):
hronæsban (9/123), oþlæ unneg (9/102), her fegtaþ (9/105).
Sie sind vermutlich eine Art Inkantation (charm), eine Beschwörung der Kraft der folgenden runischen Initiale, und wohl auch der damit verbundenen Person.
Alle Formeln bestehen nicht nur aus je 9 Runen, ihr Wert ist auch durch 3 teilbar und alle Werte zusammen ergeben 330.
Auch die rechte Kästchenseite folgt diesem Muster, wobei der Unheil bringenden H-Rune kein charm voran steht, wohl aber – nun auf der rechten Leiste mit drigiþ swæ (9/110)– der lebensspendenden S-Rune .
Wenn die 9 Runen der Formel auf der rechten Seite den Wert 110 ergeben, dann erfüllt diese wohl die gleiche Funktion, denn die Werte der anderen charms [123 + 102 + 105] ergeben 330, was als Produkt von 3 x 110 verstanden werden kann.
HEROISCHES STERBEN UND AUFERSTEHEN
Eine apotropäische Formel
Rechte Seite:
Tod und Nachtod sind das Thema der übrigen Darstellungen. Die H-Platte (nach ihrem Lebenswunsch könnte man auch von der S-Platte sprechen) möchte schicksalslenkend dem Erwählten den Einzug nach Walhall sichern. Dafür sind Sterben und Tod unumgänglich, ein Unglück [(H) für Unheil], wenn der Mensch den "Strohtod", den Tod im Bett stirbt und sein Weg somit in das Schattenreich der Hel führt. Hier nun greift die Walküre, die Erwählerin der Toten ein, die dem Gefallenen den Lebenstrunk reicht, ihn [A und E für Abwehr] rettet und damit seine Auferstehung [S für Leben] nach Walhall sichert.
Die erste Langzeile, bezieht sich auf den linken Teil des Triptychons und alliteriert auf H:
Die H-Rune, Anlaut von Herh-os, „Waldgottheit“, heißt hægl, was zunächst „Hagel“ bedeutet, übertragen aber „Unheil“ allgemein. Sie steht in der Runenreihe neben der I-Rune , Symbol für „Eis“, womit die Sphäre des Todes umschrieben wird. Das entspricht der Darstellung, wo der Krieger seiner Walküre (monsterhaftes Mischwesen) begegnet.
Die zweite Langzeile alliteriert auf den Vokalen A und E:
Die A-Rune ist hier Anlaut von agl(ac) („wehrhafter Feind“) und heißt Ac, „Eiche“. Sie steht für Abwehr (Krause). Das gleiche gilt auch für die Rune:
Die E-Rune, ist Anlaut von Erta, womit eine angelsächsische Gottheit (Erdgöttin) gemeint sein wird. Diese Rune hat den Symbolwert Eoh, „Pferd“. Es ist vielleicht mehr als nur ein Zufall, dass der mittlere Teil des Triptychons, auf den sich dieser Vers bezieht, ein Pferd (Sleipnir?) mit zwei Odinsknoten (valknutr) unter Bäumen zeigt. Dies ist der Ort, wo die todbringende - darauf deutet der Speer- Walküre nun in ihrer menschlichen Gestalt als Lebensspenderin - darauf deutet der Kelch - auftritt, um den Gefallenen vor Hels Schattenreich zu bewahren.
Die dritte Langzeile, die sich auf den rechten Teil des Triptychons bezieht, alliteriert auf S:
Die S-Rune sigel, die dreifach auftritt, steht für die „Sonne“ und versinnbildlicht damit Licht und Leben. Diese Bedeutung steht scheinbar im Gegensatz zu Text und Darstellung (das traurige Los der Zurückgebliebenen?). Für den Gefallenen aber bedeutet Überwindung des Todes und Eingang nach Walhall.
Der Deckel:
Die Æ-Rune ist Anlaut von Ægili, Name eines mythischen Bogenschützens und steht für Æsc, womit die „Esche“ gemeint ist. Im Runenlied heißt es, dieser Baum biete „hartnäckigen Widerstand“ gegen zahlreiche Angreifer. Mit dieser Bedeutung entspricht sie voll und ganz der Bildaussage. Dort verteidigt der Bogenschütze mit Hilfe seine Fylgja/Walküre Walhall gegen die anstürmenden Frostriesen (Hrimthursen).
Damit verheißt das Bild die Gemeinschaft mit den Einheriern, - vielleicht sogar den Wandel vom Schutzbedürftigen (H-Platte) zum Beschützer (Æ-Platte), eine germanische Apotheose.
Die Werte dieser Seiten ergänzen und bestätigen die gemachten Beobachtungen:
[Bei der Errechnung der Werte zählen die im Text gesetzten Punkte (Füller) mit dem Wert 1]
Die 3 Langverse der H-Platte alliterieren mit diesen Runen und Werten:
Langvers | Stabrune | Multiple | Wert |
1. Zeile | H H | 2 x 9 | 18 |
2. Zeile | A E | 25+19 | 44 |
3. Zeile | S S S | 3 x 16 | 48 |
Total | | | 110 |
Der Wert 110, der sich hier aus den alliterierenden Runen ergibt, entspricht dem der magischen 9-Runen-Formel dieser Seite und findet sich zudem in dem Wert 330 der übrigen drei 9-Runen-Formeln wieder. Welche magische Bedeutung die 11 bzw. 110 hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, dass sie aber nicht zufällig wiederholt auftritt, ist anzunehmen.
Auf diese 9-Runen-Formel folgen die Themenrunen - - - , dazu kommt (Deckel). Die Summe der Runenwerte, 7 + 1 (F, G) +5 (R) + 17 (T) + 16 (H) + 26 (Æ), beträgt 72 (3 x 24) Ein Zufallsergebnis?. Wohl kaum, wenn man bedenkt, dass allein schon die Positionierung dieser Themenrunen (F, R, T, H) auf der linken (bzw. G - wegen der zwei Bilder - auf der rechten) oberen Ecke einem Zufall von 1 : 7.962624 entspräche.
Die Zahl der Runen der H-Platte beträgt 74 und produziert den Wert 1008, der nicht nur durch den Wert beider Themenrune H und S teilbar ist, sondern auch durch deren Häufigkeit (2 x H; 3 x S).
H 1008 : (2 x 9) = 56
S 1008 : (3 x 16) = 21
Die Anzahl der Runen 74 ist nicht spektakulär, doch zusammen mit den 22 Runen der tituli zählen wir 96 (4 x 24) Runen. Letztere haben den Wert 295, der erst sich mit den 5 Punktmarken des Deckelbildes zu 300 aufrechnen ließe. So verlockend das Resultat wäre, - es bleibt spekulativ.
Die Zahl der Runen der übrigen Platten ist nicht weniger spektakulär.
Die F+G-Platte (Vorderseite) und die R-Platte (links) tragen je 72 Zeichen, wobei die Zahl durch eingefügte Punktmarken erreicht wird. Die T-Platte (Rückseite) weist 48 Runen auf, von denen einige in dem lateinischen Textteil untergebracht sind.
Der Wert der Runen dieser Platten steht dem nicht nach:
Die F+G-Platte produziert mit ihren 72 Runen (3 x 24) den Runenwert 720. Dieser Wert ist durch die Summe der Werte der alliterierenden Themenrunen [F (1) + G (7) = 8] teilbar, Ergebnis 90.
Die R-Platte ist ebenfalls in 72 Runen (3 x 24) gehalten, wobei der Wert 9323 aus der Reihe fällt. 930 wäre wahrscheinlicher.
Die T-Platte weist 48 Runen (2 x 24) auf, die den Wert 612 produzieren, der durch den Wert der Themenrune T (17) teilbar ist, Ergebnis 36.
Die H-Platte trägt 74 Runen mit dem Wert 1008 und ist, wie schon dargelegt, durch ihre Themenrunen (9 und 16 bzw. 18 und 48) teilbar.
Die Tituli setzen sich aus 22 Runen (Wert 295) zusammen, 5 davon gehören zum Namen auf dem Deckel. Zu den 74 Runen der rechten Seite hinzugerechnet, ergibt dies 96 = 4 x 24.
Die 6 Themenrunen aller 5 Platten – F G R T S Æ – produzieren den Runenwert 72
In der tabellarischen Übersicht ergibt sich dieses Bild:
Platte | Runen | Wert | Thema | Multiple |
Vorne | 72 | 720 | 8 | 90 |
Links | 72 | 939 (940) | 5 | 188 (?) |
Hinten | 48 | 612 | 17 | 36 |
Rechts | 74 | 1008 | 16 | 63 |
Deckel | 5 | 76 | 26 | ~3 |
Zahlen und Werte aller 5 Platten (incl. tituli)
Gesamtzahl der Runen beträgt 288 (12 x 24)
Gesamtwert der Runen beträgt 3574
Wenn man die Zahl 24 wegen der Summe ihrer Zahlen (1+2+3+…24) mit der 300 gleichsetzt, dann steht die Gesamtzahl der Runen 288 (=12 x 24) für 3600.
Der Gesamtwert der Runen 3574 verfehlt die Teilbarkeit durch 24 nur um den Wert 2; denn 24 x 149 ergibt 3576.
Hier könnte entweder ein Fehler beim Setzen oder aber beim Lesen der Runen ursächlich sein. Dieser wäre auf der R-Platte (links) zu vermuten, da diese sich nicht den inzwischen
entdeckten Regeln fügt. Hier wäre zumindest der Runenwert 940 zu erwarten. Besser noch 960, wodurch sich ein mit der Runenzahl identischer Wert 3600 ergeben würde.
Ist der Wert 3574 aber beabsichtigt - und dafür sprechen die Kalenderelemente -, dann muss er unter diesen Gesichtspunkten verstanden werden.
Der Integrierte Kalender
288 Runen (incl. Punktmarken) können für die Summe 3600 stehen.
360 Tage umfasst ein Sonnenjahr mit 12 Monaten zu je 30 Tagen und 5 Tagen „zwischen den Jahren“. Denken wir noch einmal an die Rosette im Magierbild zurück, die mit ihren 13 Blättern kalendarische Funktion haben kann. Nun wissen wir, dass die alte germanische Woche 5 Nächte zählte (altnordisch fimmt). 72 solcher Wochen bilden ein Jahr mit 360 Tagen, in unserem Fall einen Zyklus von 720 Wochen, also 10 Jahren mit 3600 Tagen.
3600 Tage stehen für einen 10jährigen Sonnenkalender, wobei (nach 1 bis 9) die 10 den Anfang der nächsten Periode bildet, also den Kalender perpetuiert.
Das Magierbild (Vorderseite) zeigt eine Rosette, die mit ihren 13 Blättern auf ein Mondjahr mit 13 siderischen Monaten hindeutet. Da die Magier als Sterndeuter gelten, liegt diese Annahme nahe.
288 Runen (incl. Füller) ergeben den Runenwert 3574. Dies entspricht 10 Jahren zu 13 Monaten mit 27.5 Tagen, was sich in 6 Monate zu 28 Tage und 7 Monate zu 27 Tage umsetzen lässt und somit ein lunares Jahr von 357 Tagen produziert.
Ein lunares Jahr4 von 357 (oder 355) Tagen würde schnell den Anschluss an das Gemeinjahr mit seinen 365,25 Tagen verlieren. Um den Kalender anzugleichen, hatte man über eine bestimmte Anzahl von Jahren (im ländlichen angelsächsischen Raum über 8 Jahre) in regelmäßigen Abständen Schaltjahre einzufügen, die dann nach einem längeren Zeitraum neu justiert werden mussten.
Eine solche Formel zum Abgleich bietet der kryptisch anmutende lateinische Textteil der T-Platte, ein Text abgefaßt in lateinischen Majuskeln und Runen – u.a. eine S-Rune der Variante statt - , die auf dem Kästchen sonst nicht gebraucht wird und damit ihrer Position besondere Bedeutung verleiht. Die 20 Buchstaben dieses Abschnitts, als Runen verstanden, produzieren den Wert 238. Dies entspricht einem Metonischen Zyklus, einer Periode, die sowohl 19 Sonnenjahre als auch 235 Mondperioden lang ist. Da dieser Zyklus aber bei seinem Ausgangspunkt, der Wintersonnenwende (Stillstand der Sonne oder Solstitium) endet, führen ihn die überschießenden 3 Lunationen zur Tag-und-Nachtgleiche (Equinox). Dieser Termin galt in einigen älteren Kulturen als Jahresanfang, und nicht zufällig steht er mit Ostern für die Auferstehung.
T-Platte: Lateinischer Textteil: HCFUGANTHEUALM
Die 4 I-Runen sowie die R-Rune und die alte S-Rune markieren die Schaltjahre.
Rosette und Metonischer Zyklus rahmen so die Lebensspanne von der Geburt bis zum Heldentod. Damit dieses ersehnte Finale aber nicht vorzeitig eintritt, wird dem Ende einer Periode nun der Anfang der nächsten angefügt, um die „Uhr“ am Laufen zu halten.
Der Faden (wenn wir das Schicksal so nennen wollen) beginnt mit 1 und endet mit 9. Die 10 nimmt den Faden wieder auf und spinnt ihn bis 19, von wo die 20 ihn fortsetzt. Eben deshalb weist dieser Metonische Zirkel 20 Lettern auf.
Nun werden 10 Jahre kein Verfallsdatum sein, eher eine sich unendlich fortsetzende Potenz oder ein sich wiederholender Zyklus von 10 oder 100 Kreisläufen, denen immer wieder neue Kreisläufe folgen. Man dachte damals gern in Zyklen.
Der Runenmeister nutzte Bilder, Runen und Zahlen, um diese Zyklen in der gewünschten Bahn zu halten. Diesen Auftrag mag ihm ein königlicher Patron zum Nutzen seines Sohnes erteilt haben: „Magie macht Macht machbar!“
Hat der Zauber gewirkt? Das Kästchen hat er nun fast anderthalb tausend Jahre vor Raub und Feuer (und Entschlüsselung) bewahrt, aber wie erging es unserem königlichen Helden? Hat er ein heldisches und rühmliches Leben durchlebt? Hat seine hübsche Walküre ihn zum Zweikampf auf Wotans himmlischen Schlachtfeldern begleitet? Verteidigt er wie Ægil mit Pfeil und Bogen eines der 540 Tore Walhalls gegen die Frostriesen? Vergnügt er sich am Abend im Kreise seiner Kampfgenossen bei Bier und Met, mit sanfter Hand kredenzt von Wotans kriegslüsternen Töchtern?
Walhalls Stammrolle mag uns die Antwort liefern, - natürlich in Runen.
1 Dazu H. Birkhan, Magie im Mittelalter (München 2010) Danach sind Magie und Mantik eine Auffassung vom inneren Zusammenhalt des Kosmos und der ihn bestimmenden Kräfte.
2 Nach diesem Prinzip sind die Geheimrunen (auch "Zweigrunen" genannt) gestaltet, wie wir sie hier z.B. auf der R-Platte (links) und H-Platte (rechts) finden. Die nach links weisenden Wurzeln geben das ætt an, die nach rechts geben die Position der Rune in der Achter-Reihe an. Zu Geheimrunen allgemein s. K. Düwel, Runenkunde, S. 183 -196 (Stuttgart, Weimar 2001)
3 hier kann ein Lesefehler oder aber ein Rechenfehler des Schnitzers oder seines Deuters vorliegen.
4 Aus Wikipedia zum „siderischen Monat“: Da für astrologische Aussagen unter anderem auch die Position des Mondes vor den Fixsternen (Tierkreiszeichen) eine Rolle spielen soll, beruht der astrologische Kalendermonat auf dem siderischen Monat (27,3216 Tage). Man kann eine Auswahl von solchen Kalendermonaten zu 27 und 28 Tagen zu einem Kalenderjahr mit 355 Tagen (13•27,3216=355,181) zusammenfassen. Mit einem um einen Tag kürzeren Monat ist auch eine formale Angleichung an das außerhalb der Astrologie gebrauchte Lunarjahr zu 354 Tagen möglich.
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