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Die Virgo und der Vamp

Darstellungen von "Mutter und Kind" haben eine lange ikonographische Tradition. Die ältesten christlichen Bildnisse zeigen Maria und das Jesuskind, wie sie von den Magiern verehrt werden. Mutter und Kind sitzen auf einem Stuhl und wenden sich den Ankommenden zu. In seiner kindlichen Art greift der Kleine nach den Gaben des ersten in der Gästereihe, die schließlich auf drei Personen festgelegt wurde. Man findet diese Bilder des "westlichen Typs" auf Sarkophagen und Fresken des 3. und 4. Jahrhunderts. Selten sieht man hier einen Stern, nie jedoch einen Engel. Der Rahmen erweckt den Eindruck eines Familienbesuchs.

Der "orientalische Typ" - jetzt mit Stern und Engel - entstand im 5. Jahrhundert und ist die seitdem übliche Darstellung der Jungfrau mit Christus. Der Rahmen versetzt den Betrachter an einen Königshof. Vornehme Fremde in tief demutsvoller Haltung nahen dem Thron von Mutter und Sohn, entweder vom Engel geleitet oder von ihm, wie von einem Zeremonienmeister, empfangen. Später tritt im Hintergrund Joseph wie ein königlicher Berater hinzu. Maria, nun als Himmelskönigin, mit Christus, dem Erlöser, - beide mit Heiligenschein (Nimbus) - haben sich von ihren Besuchern abgewandt und schauen aus dem Bild heraus den Betrachter an. Das Kind hebt die rechte Hand zum Redegestus. Man könnte sagen, daß Maria nun eine christliche Muttergottheit geworden ist, die Vater, Sohn und Heiligen Geist in sich einschließt.

Das Magierbild des Franks Casket benutzt diese "orientalische" Vorlage, zeigt aber keinen Engel, sondern einen großen Wasservogel. Anstelle des Sterns ist eine Rosette wiedergegeben. Ohne eine ersichtliche Notwendigkeit bezeichnet das runische Wort mægi die Besucher als Magier. Das entspricht zwar dem biblischen Wort (lat. magi), aber als Bilderklärung war das sicher nicht gedacht. Diese Inschrift betont, daß es auch um die gabenbringenden Zauberpriester geht, nicht nur um die "heilige Familie".

Aber dieser Gruppe, "Maria und Kind", ging ein viel älteres Duo von "Mutter und Kind" voraus. Solche Paare wurden, wenn es zu offensichtlich heidnische Gottheiten waren, von der Kirche vernichtet, andere wurden durch christliche Werke ersetzt, eine kleinere Anzahl wurde jedoch als christliche Kunst aus vorausschauender heidnischer Zeit gedeutet und übernommen. All diese Werke hatten eins gemeinsam, sie zeigten den Archetyp der "Mutter". Es waren die "Schwarzen Madonnen", die viel älter als die "heilige Familie" sind. Die Kirche verabscheute diese schwarzen "Urmütter", und wenn sie doch überlebten, dann oft nur fleischfarben übermalt. Sie waren Symbol von Ehe, Sexualität und Fruchtbarkeit bis hin zu Wehen und Geburt. Das Werden war ihre helle Seite. Ihre dunkle Seite waren Altern und Tod. Und so tragen manche Madonnen eine helle und dunkle Gesichtshälften. Sexualität und Tod, das machte sie zum Vamp, wenigstens in den Augen der unduldsamen Kirche. Der Mond, einst eine eigenständige weibliche Gottheit (röm. ‚Luna', Schwester des ‚Sol'), wurde ihr Symbol. Die schwarze Nacht war ihr einer Aspekt, der helle Mond ihr anderer. Sie war alles von "Mutter Erde" (Erce, Erta, Berta, Herta < Germ. Erde, Lat. terra) bis hin zu Astarte , syrische Entsprechung zu den dunklen Göttinnen Isis (Ägypten) und Ischtar (Babylon). Die angelsächsischen Göttinnen, Hretha (die Erta des Franks Casket?) und Eostre/Ostara (vgl. Astarte), gehören in diese Reihe. Ebenso wohl auch Hera, die Gemahlin des Zeus, die Göttin von Ehe und Familie und damit der Mutterschaft. In dieser Reihe steht wohl auch die keltische Göttin Artio, die als Patronin der unbestellten Erde und all ihrer Lebewesen angesehen wurde. Insbesondere wachte sie über die gebärfähigen und stillenden Frauen.

Nein, die Kirche liebte diese Muttergottheit nicht, aber loswerden konnte man sie auch nicht so einfach. So erinnerte man sich an die alte Weisheit, daß man sich mit dem, was man nicht besiegen kann, verbünden muß. Folglich legte man Christi Geburt auf den 25. Dezember und Epiphanias (volkstümlich, aber dreifach falsch: "Heilige drei Könige") auf den 6. Januar. Wenn die Heiden es sich gut gehen ließen, dann wenigstens für einen christlich korrekten Anlaß. Das hatte Papst Gregor der Große bereits um 600 seinen Missionaren so anempfohlen.

Nun war da noch der Mond, nach der Genesis lediglich das Licht der Nacht, mehr nicht. Aber die Leute verbanden die Muttergottheit mit diesem Gestirn und verehrten die alte Gottheit indirekt. Papst Innozenz III erinnerte sich um 1200 der weisen Bündnispolitik Gregors und erlaubte schließlich die Gleichsetzung der Jungfrau mit dem Mond: "Jeder, der in dem Schatten der Sünde begraben ist, sollte zum Mond hinaufschauen. Nachdem er die Gnade Gottes verloren hat, es nie mehr Tag wird, die Sonne nie mehr für ihn scheinen wird, bleibt ihm immer noch der Mond am Horizont. Laß ihn zu Maria sprechen. Unter ihrer Führung finden viele den richtigen Weg zu Gott." Und wenn dann im Hochmittelalter Maria tatsächlich mit diesem Gestirn dargestellt wurde, dann war es eine Mondsichel unter ihren Füßen, auf die sie trat: Der Sieg über die schwarze Rivalin als Ergebnis der Bündnispolitik.

Modraniht oder Modranect, die Nacht auf den Sonnenuntergang des 25. Dezembers, war der großen Erdmutter gewidmet, es war zugleich die Jahreswende. Die folgenden 12 Nächte gehörten ihr, es war die Zeit der Rauhnächte. Natürlich lagen die Heiden munter feiernd auf der (faulen) Bärenhaut, und so rahmte die Kirche diese Festtage mit ihren Daten. Der 25. 12. wurde zum Geburtstag Christi ernannt, der 6. 1. zu Epiphanias. Und eben dieser Termin war nun die christliche Jahreswende. Die Zeit heidnischer Rauhnächte war damit kirchlich besetzt.

Maria übernahm Züge jener Muttergottheit und glich damit ein wenig den Verlust an weiblichen Göttinnen aus, den das streng patriarchalische Christentum bewirkt hatte. Die sterile Jungfrau, Virgo, wurde zur Himmelskönigin, astronomisch (genau wie Astarte) auch zur stella maris,während ihre heidnische Gegenspielerin, erte (gleich in welcher Namensform) als Patronin der Partnerschaft und Fruchtbarkeit mehr erdverbunden blieb. Sie bestimmte den Kreislauf von Werden und Vergehen, stand somit für Sexualität, Fruchtbarkeit, Empfängnis und Geburt (ihre helle Seite), aber auch für den Tod (die dunkle Seite). Aus der Sicht der Kirche würde sie das zum Dämon machen, zum Vamp heute vielleicht. Mit Bezug auf das Franks Casket heißt das, die Gottheit wäre bei Geburt und Tod des Helden gegenwärtig.2 Wenn sie tatsächlich im Magierbild präsent ist, dann müßte sie auch in der Sterbeszene erscheinen (H-Platte), wenn herh os ihren erwählten Helden heimholt.3

Verfolgen wir ihren Namen zurück, so stoßen wir auf Berchta, eine Form, die sich zu Pertawandelt. Es gibt da auch eine Herta, eine ältere Lesart des wegen der us-Endung unwahrscheinlichen Namens "Nertus" bei Tacitus. Wir kennen dann noch jene "Erceeorthen mother …", die in einem angelsächsischen Zauberspruch gegen den unfruchtbaren Acker angerufen wird. Und schließlich ist da noch "Erta", jene Gottheit, mit der sich das irdische Schicksal erfüllt. Vergleichen wir all diese Namen, so fällt die gemeinsame Wortwurzel ert auf, die sich auch in Erde findet.

Aber was hat die Virgo mit der Erdmutter zu schaffen?

Befassen wir uns noch einmal mit einer Besonderheit dieser Darstellung, mit der 13blättrigen Rosette (nicht symmetrische 12 oder 16 Blätter). Weshalb hat der Schnitzer 13 Blätter eingefügt, etwas "gequetscht" sogar, wo 12 ausgereicht hätten? Die biblischen Magier waren Mitraspriester und somit auch Sterndeuter. Doch hier handelt es sich nicht um den "Stern von Bethlehem", dem sie folgten. Die 13 Blätter der Rosette deuten vielmehr auf die 13 Mondmonate des "lunaren" Jahres hin (13 Monate zu je 28 Tagen ergeben ein Jahr zu 364 Tagen). So handelt es sich bei der Rosette um den Mond, und der ist das Kennzeichen der heidnischen Gottheit Erta (Perchta, Berta etc.). Damit hat man der Jungfrau hier Züge ihrer heidnischen Gegenspielerin verliehen, ja, vielleicht sogar "belassen".

Es ist das gleiche Muster wie bei der Ersetzung des wegweisenden Engels durch den Wasservogel, Gans oder Schwan. Streng biblisch genommen tritt der Engel als Bote Gottes auf; im Volksglauben dagegen wird er zum lebensbegleitenden Schutzengel. Dem entspricht im germanischen Weltbild die Walküre, die ihrem Schützling von der Geburt bis zum Tode und darüber hinaus zur Seite steht. Sie erscheint zu seinen Lebzeiten unerkannt (als Vogel) - erstmals bei seiner Geburt. Es ist seine fylgja, die Frau, die ihm unbemerkt folgt und zur Seite steht. Sie ist seine sigewif, die Schlachthelferin, die ihn in seinem letzten Kampf als Walküre (in Gestalt eines monströsen Schreckenswesens) überwindet, und die er im Nachtod erstmals als menschengestaltige Geliebte erfährt.

Genau dem entspricht das Programm des Kästchens. Dieses beginnt mit der Geburt, führt linksläufig über Wieland, Romulus und Titus (Symbolfiguren für den Lebenslauf) hin zu der mythologischen Szene, in der herh os den Tod bringt. Und dies geschieht, wie der Text verrät, im Auftrag einer verborgenen Göttin, der erta. Demnach würden also beide Szenen, Geburt und Tod, die Konstellation Erdmutter und Walküre beinhalten.

So gesehen wird das Bild der heiligen Jungfrau doch recht doppeldeutig. Maria erhält hier Züge der "großen Sünderin", der Maria Magdalena; etwas Virgo, etwas Vamp. In unserem Zusammenhang trägt sie Züge der Fruchtbarkeitsgöttin, in Angelsachsen Erce, Erta oder Hretha, und vertritt demnach die alte Erdmutter.


1 Hera ist Wächterin über die eheliche Sexualität. Ihr obliegt der Schutz der Ehe und der Niederkunft. In Argos wurde sie als Eileithyia, als Geburtsgöttin verehrt. In der Theogonie von Hesiod wird Eileithyia (auch: Ilithya) jedoch nicht von Hera selbst verkörpert; sie ist dort die Tochter von Hera und Zeus. (Wikipedia, Hera).
Die Etymologie ihres Namens ist nicht eindeutig geklärt, weshalb auch hier die Namensverwandtschaft mit "unserer" Erta denkbar ist.

 

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Quelle: https://www.franks-casket.de Page Top Page Top © 2023 email
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